Die herrschenden Eliten feiern „70 Jahre Grundgesetz“ und damit sieben Jahrzehnte, in denen der Souverän konsequent von der Mitbestimmung über eine eigene Verfassung ausgeschlossen wurde.
von Henry Mattheß
Nur noch 70 von 146 Artikeln des Grundgesetzes (GG) haben den Wortlaut von 1949. Die Mehrheit der Artikel wurde in insgesamt 62 Änderungsgesetzen in den vergangenen 70 Jahren geändert. Der Textumfang hat sich verdoppelt. Ist in einem einzigen Fall das Volk befragt worden? Ist das GG 1949 durch Volksabstimmung erlassen worden? Ist die deutsche Wiedervereinigung mit einer neuen gesamtdeutschen Verfassung per Volksabstimmung besiegelt worden?
Wenn für das Inkraftsetzen des GG ohne Volksabstimmung die Verhinderung einer Verfestigung der Spaltung Deutschlands geltend gemacht wurde, hätte dann die Überwindung dieser Spaltung 1990 nicht umso mehr eine durch Volksabstimmung verabschiedete Einheitsverfassung benötigt?
Die siebzigjährige Abwesenheit des Volkes als direkter Entscheider bei Gesetzes- und Verfassungsfragen lässt im öffentlichen wie auch akademischen Diskurs mehr und mehr das in der Zeit der Aufklärung von Kant und Rousseau entwickelte Konzept der Volkssouveränität verblassen. Volkssouveränität heißt Gesetzgebung des Volkes und zwar gerade auch in Verfassungsfragen.
Das Volk schafft sich seine Verfassung, die ihm gehört und nicht seinen Vertretern oder gar der Justiz. Dass gewählte Vertreter im Bundestag Entscheidungen treffen sollen, ist unstrittig. Dass aber diese Vertreter unter Mitwirkung der Justiz das Volk über Jahrzehnte von der direkten Gesetzgebung ausschließen, ist eine skandalöse Missachtung von Volkssouveränität. Die vor 100 Jahren verabschiedete Weimarer Reichsverfassung war bezüglich sachunmittelbarer Demokratie dem GG erkennbar voraus. Sie beinhaltete Verfahren von Volksabstimmungen sowohl für einfache Gesetze als auch Verfassungsänderungen.
Das GG von 1949 ist diesbezüglich ein klarer Rückschritt. Statt dem demokratischen Souverän (dem Volk) wurde die Verfassung bis heute mehr und mehr einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) überantwortet, welches in der Öffentlichkeit als eine Art heilige Instanz, Gralshüter der Verfassung wahrgenommen wird.
Der Zusammenhang zwischen Verfassung und Volk gerät dabei weitestgehend aus dem Blick. Insofern ist es ein vielsagender Vorgang, wenn im Mai das viertägige „Verfassungsfest“ anlässlich 70 Jahre GG am Sitz des BVerfG in Karlsruhe statt am Bundestag in Berlin stattfand. Der Bundestag als Vertretungsorgan des Volkes übte sich dagegen mit einer zweistündigen Plenardebatte zum GG in Selbstverzicht. Verschiedene Parlaments- und Regierungsvertreter pilgerten wenig später noch nach Karlsruhe …
Das Konzept einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Gewaltenteilung des Präsidialsystems der USA entlehnt, welches genauer Souveränitätsteilung genannt werden muss: Sowohl dem Parlament als Legislative, dem Präsidenten als Exekutive und dem obersten Gericht als Judikative wird eine geteilte Mitwirkung am Gesetzgebungsprozess zugestanden. Das Präsidialsystem der USA unterscheidet sich vom europäischen Parlamentssystem durch das fehlende Konzept der Volkssouveränität.
Es zielt ausdrücklich nicht auf eine Anbindung der Gesetzgebung an jeweilige Mehrheitswillen in der Bevölkerung, sondern nur auf eine Machtbegrenzung seiner politischen Akteure ab. Dieses System der Machtbegrenzung durch Machtbalance wurde von Montesquieu (1689 bis 1755) in vordemokratischer Zeit für die Organisation absolutistischer Ständestaaten entworfen. Das weltweit als vermeintlich demokratisch kopierte Präsidialsystem der USA ist der nichtdemokratischen Staatsorganisation des Absolutismus im 17./18. Jahrhundert verhaftet, aber nicht einer Demokratie im Sinne von Volkssouveränität.
Der Souveränitätsteilung nach Montesquieu folgend, begann die von konservativ-monarchistischen Richtern dominierte deutsche Justiz ab 1919 insbesondere die Vollmachten des Reichsgerichtes auszuweiten. Die Justiz sollte in Form einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit gegen das nach Wegfall des Kaisers erste vollsouveräne deutsche Parlament in Stellung gebracht werden. Der lange linksliberal dominierte Reichstag der Weimarer Republik sollte in seiner Gesetzgebung vom konservativen Reichsgericht im Sinne herrschender Eliten beschränkt werden können. Maßgeblicher Ideengeber für diese Entwicklung war der Staatsrechtler Carl Schmitt (1888 bis 1985).
Bis heute wird in Deutschland eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem demokratischen Souverän favorisiert, was vor allem auf die Personalkonstanz der Justiz von der Weimarer Republik, über die Nazidiktatur bis in die Nachkriegsjahre zurückzuführen ist.
Insbesondere ab Mitte der 1950er Jahre weitete das BVerfG ganz im Geiste Schmitts seine ursprünglich nur auf Verfahrensfragen der Verfassung beschränkte Zuständigkeit auf inhaltlich-sachliche Belange, insbesondere den Grundrechtsteil der Verfassung aus, um sich schließlich zum unbeschränkten Interpreten des GG, auch über dessen Wortlaut hinaus zu erheben. Statt wichtige gesellschaftliche Fragen durch demokratische Prozesse zu klären, werden sie dem Votum weniger Richter unterworfen, welche zum „Vormund demokratischer Gesetzgebung“ (3) mutieren.
Nicht etwa eine im Vorfeld von Entscheidungen konsultierte Bürgerversammlung wie in Irland 2013 bis 2015 (2), nicht eine optionale Überprüfung von Bundestagsgesetzen durch Volksabstimmungen, nicht eine obligatorische Bestätigung von Verfassungsänderungen durch Volksabstimmungen stellen auf demokratischen Weg Verfassungsmäßigkeit her, sondern die finale juristische GG-Auslegung des BVerfG. Justiz statt Demokratie. Das produziert Justizgläubigkeit, die „Erwartungen an Gerichte an die Stelle eigener staatbürgerlicher Aktivität treten lässt“ (3).
Entgegen diesem systemischen Zwang befürworten bei einer jüngst aus Anlass des Grundgesetzjubiläums in Auftrag gegebenen Umfrage, wie schon frühere, 75 Prozent der Befragten bei wichtigen bundespolitischen Fragen Volksabstimmungen (1).
Was Verfassungsgerichtsbarkeit konkret bedeuten kann, sei kurz an einem Urteil des BVerfG von 1994 aufgezeigt (4): Das Gericht sollte darüber befinden, ob die damaligen ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr verfassungsgemäß seien. Vier Verfassungsrichter leiteten, als würden sie jenseits der Verfassung agieren, durch bloße Interpretation und Behauptung — die NATO sei ein System kollektiver Sicherheit — entgegen völkerrechtlicher Definitionen und dem Gebot der Texttreue eine Bejahung aus dem GG ab (5).
Per bloßen Gerichtsurteils erfolgte so die Umwidmung der Bundeswehr von der bisherigen „Verteidigung“ laut GG, zur späteren Angriffsarmee im Rahmen der NATO (Kosovokrieg). Richterliche Rechtsfindung, also juristische Konstruktion allein, wendete die bis dahin unter dem Friedensgebot des Grundgesetzes stehende Militäragenda Deutschlands in ihr komplettes Gegenteil, ohne dass das Volk bei der existenziellen Frage von Krieg und Frieden irgendeine Möglichkeit der Entscheidung hat. Ist das Demokratie?
Der demokratische Weg wäre die Beibehaltung bisheriger Rechtsprechung durch das BVerfG gewesen, keine Auslandseinsätze, in Verbindung mit dem Hinweis an Regierung und Gesetzgeber, die angestrebte Legitimation für Auslandseinsätze durch eine klärende GG-Änderung, also Rechtssetzung selbst herzustellen. Diese wie auch jede andere Verfassungsänderung müsste jedoch zusätzlich einem obligatorischen Verfassungsreferendum unterworfen werden. So wie es in der Schweiz (seit 1848), Australien (1901), Dänemark (1915), Irland (1937), Frankreich (1958, Umgehung möglich), in fast allen Bundesstaaten der USA (Maine bereits seit 1816, Mississippi seit 1817) und den Bundesländern Bayern und Hessen für Verfassungsänderungen zwingend vorgeschrieben ist.
Die angeblich im GG festgelegte ausschließlich repräsentative Demokratie befeuert zwangsläufig den Drang zur Justizanrufung durch Opposition oder außerparlamentarische Kräfte. So kann die 2016 vom Bundestag trotz gegenteiliger Meinungsumfragen beschlossene Kriminalisierung von Sterbehilfeorganisationen in keiner Volksabstimmung überprüft werden.
Das Gesetzgebungsverfahren unterlag vorab auch keiner Beratung durch einen etwaigen per Losverfahren bestimmten Bürgerrat (6). Kritikern des Gesetzes bleibt statt eines gesetzlich geregelten demokratischen Verfahrens einzig der juristische Weg zum BVerfG. Das Thema Sterbehilfeorganisationen ist aber zuallererst durch Mehrheiten in der Bevölkerung und nicht durch Verfassungsinterpretation zu klären.
Infolge der gegenwärtigen Stellung der „Justiz als gesellschaftliches Über-Ich“ (3) sehen sich viele Organisationen der Zivilgesellschaft wie auch Einzelpersonen gezwungen, ihre Anliegen bevorzugt auf juristischem Wege statt in demokratischen Verfahren zu verfolgen, beziehungsweise werden Organisationen ausschließlich zum Zweck juristischer Aktivität gegründet. Infolgedessen werden Gerichte viel zu oft für Demokratie an sich gehalten, sie dienen aber nur deren rechtsstaatlicher Durchsetzung.
Das Fehlen politikberatender Bürgerräte, die Versagung von Volksabstimmungen auf Bundesebene minimieren unter dem Diktum ausgeprägter Verfassungsgerichtsbarkeit des BVerfG demokratische Verständigungsmöglichkeiten der Gesellschaft und lassen unnötig Gerichte anstelle des Volkes entscheiden. Eine Änderung dieses fragwürdigen Demokratie- und Verfassungsverständnisses wäre daran erkennbar, dass Verfassungsfeste in Zukunft am Sitz der Volksvertretung in Berlin und nicht in Karlsruhe stattfinden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag von ZDFzeit, 2019
(2) Citizen Assembly, 2013 in Auftrag des irischen Parlamentes aus 66 ausgelosten Bürgern, 33 Politikern und einem Vorsitzenden gebildet, beriet an zwölf Wochenenden über Pro und Kontra gleichgeschlechtlicher Ehen. Abschließend empfahlen 77 Teilnehmer deren Einführung. Dieser Vorschlag wurde 2015 zur Volksabstimmung gestellt und angenommen.
(3) Ingeborg Maus: Justiz als gesellschaftliches Über-Ich — Zur Position der Rechtssprechung in der Demokratie, Suhrkamp 2018
(4) VerfGE 90, 286, 12.7.1994
(5) Das Friedensgebot des Grundgesetzes, Dieter Deiseroth, 1.3.2010 in vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 103-112
(6) Der erste bundesweite Bürgerrat tagte zum Thema Demokratie am 13./14. u. 27./28.9.2019 in Leipzig, Teilnehmer waren 160 per repräsentativen Losverfahren aus Einwohnermelderegistern eingeladene Bürger ab 16 Jahre.
Zuerst erschienen auf Rubikon CC4.0.